Im Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und somit auch die Befreiung Münchens vom nationalsozialistischen Regime zum 80. Mal. Zu diesem Anlass präsentieren die Münchner Philharmoniker zwischen dem 12. April und 8. Mai 2025 fünf Konzertprogramme mit Kompositionen, die im unmittelbaren zeitlichen Kontext des zweiten Weltkriegs entstanden sind oder zentrale Themen wie Verlust, Verzweiflung, Trost und die Sehnsucht nach Frieden reflektieren. Dabei wird Musik nicht nur als Ausdrucksmittel individueller oder kollektiver Emotionen erfahrbar, sondern auch in ihrer politischen Dimension greifbar: im Spannungsfeld zwischen Macht und Missbrauch, als Medium zum Ausdruck von Unabhängigkeit, Hoffnung und Widerstand.
KOMPONIEREN IM TOTALITÄREN SYSTEM
Dmitrij Schostakowitsch steht exemplarisch für den Einfluss von Musik unter totalitären Regimen. 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, komponierte er seine 8. Symphonie, die er selbst als »Requiem« bezeichnete. Das Werk thematisiert das Leid des Krieges und die existenzielle Angst von Künstler*innen und Intellektuellen unter der stalinistischen Diktatur. Trotz der düsteren Themen finden sich Momente von Hoffnung und Menschlichkeit in der Symphonie.
UNVERGESSENES LEID UND HOFFNUNG AUF FRIEDEN
Im zweiten Programm des Themenschwerpunkts erklingen Werke, die im Schatten der Weltkriege entstanden. Maurice Ravels »Le Tombeau de Couperin« widmet jeden Satz einem gefallenen Freund aus dem Ersten Weltkrieg. 1943 schrieb Francis Poulenc »Figure humaine« als Hymne an die »Liberté«, ein Meisterwerk für 12-stimmigen Chor a cappella, das vom Philharmonischen Chor München gesungen wird. Frank Martins »In terra pax«, komponiert 1944, behandelt die Trauer und Angst nach dem Krieg, aber auch die Freude über den Frieden. Es wurde am 7. Mai 1945, dem Tag des Waffenstillstands, erstmals aufgeführt.
Heimat, Verlust und Widerstand
Das dritte Konzertprogramm widmet sich polnischer Musik, die Themen wie Heimat, Verlust und Widerstand behandelt. Frédéric Chopins »Grande fantaisie sur des airs polonais« lässt die polnische Volksmusik in einem virtuosen Rahmen erklingen. Henryk Góreckis »Symphonie der Klagelieder« erinnert an die Opfer von Krieg und Unterdrückung und vertont unter anderem ein Gebet einer 18-jährigen Gefangenen der Gestapo. Wojciech Kilar kombiniert in »Krzesany« folkloristische Elemente mit symphonischer Dichte und erzählt von Polens Kampf um Unabhängigkeit.
GEMEINSAM FÜR TOLERANZ UND VERSÖHNUNG
Ein Kammerkonzert im Künstlerhaus gedenkt Künstler*innen, die in Zeiten von Unterdrückung Zuflucht in ihrer Kunst fanden. Im abschließenden Konzert am 8. Mai 2025 treten die Münchner Philharmoniker gemeinsam mit dem Israel Philharmonic Orchestra auf. Unter der Leitung von Lahav Shani wird das eindringliche »Prayer« von Tzvi Avni aufgeführt, der als Kind aus Nazi-Deutschland nach Palästina emigrierte. Wie kein anderes Werk der Musikgeschichte ist die »Sechste« von Gustav Mahler, der Zeit seines Lebens immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war, eine intensive musikalische Auseinandersetzung mit menschlichem Leid und emotionaler Verzweiflung.
Raum für künstlerische Auseinandersetzung mit den großen Fragen unserer Zeit
All diese Werke sind Teil eines größeren musikalischen Dialogs, der sowohl persönliche Erinnerungen als auch kollektive Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt. Mit diesem Themenschwerpunkt möchten die Münchner Philharmoniker nicht nur erinnern, sondern auch einen Raum für künstlerische Auseinandersetzung mit den großen Fragen unserer Zeit öffnen. Die Musik lädt dazu ein, innezuhalten, zuzuhören und über die Bedeutung von Freiheit und Frieden nachzudenken.
Die Konzerte der Münchner Philharmoniker sind Teil des stadtweiten Kulturprogramms »Stunde Null? Wie wir wurden, was wir sind«. Denn die Befreiung vom Nationalsozialismus war kein abrupter Akt in einer »Stunde Null«, sondern erforderte jahrelange Anstrengungen. Die Zeit ab dem 8. Mai 1945 prägten das Mit- und Nebeneinander von Holocaustüberlebenden und Hinterbliebenen der Vernichtung, Verschleppten und Entwurzelten, Geflüchteten und Vertriebenen, der Mitglieder der amerikanischen Streitkräfte wie auch von aus dem Exil zurückgekehrten Deutschen. Sie alle stellten die Weichen für unser demokratisches Zusammenleben in einer vielfältigen Stadtgesellschaft.
Die Aufgaben dieser sich neu bildenden Gesellschaft – die unserer Eltern und Großeltern – wirken aus heutiger Sicht fast unbewältigbar. Der Schriftsteller und Journalist Walter Kolbenhoff beschrieb die Stadt in den Jahren 1946/47 als trostlose, surreal anmutende Wüste: »Mal konnte man kilometerweit sehen, dann wieder ging man durch Schluchten, zu beiden Seiten ragten die Trümmerhaufen hoch.« Für die Schriftstellerin Erika Mann war Bayern 1945/46 ein verlorenes Land, »nicht menschenerkennbar «. Wie konnte unter diesen Bedingungen überhaupt ein Neuanfang in München gelingen?
Wie konnte eine Demokratie wachsen? Wie wurden totalitäre Erbschaften jenseits von Verleugnung und Gleichgültigkeit behandelt? Wo verläuft die Grenze zwischen Erinnerung, Verdrängung und Ideologie? Wie ging die sich konstituierende Stadtgesellschaft mit dem »Mitgebrachten« der Neumünchner*innen, mit ihrer jeweiligen Herkunft, Kultur und ihren Erfahrungen um? Was wird ausgewählt, was weggelassen, wer wird integriert, wer übersehen?
Damals wurden in Politik und Gesellschaft Weichen gestellt, die bis heute unser Zusammenleben beeinflussen. Das Programm »Stunde Null? Wie wir wurden, was wir sind.« möchte mit mehr als 130 Partner*innen genau daran erinnern – verbunden mit den für uns heute kaum vorstellbaren Ängsten, Hoffnungen und Leistungen all derjenigen Menschen, die im Jahr 1945 und danach in München einen neuen Anfang versuchten. Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 und dem breiten Aufschwung eines autoritär gestimmten Populismus (nicht nur) in Europa wird die freiheitliche und demokratische Ordnung und ihre Errungenschaften ganz offensichtlich massiv bedroht. Ein Rückblick auf die »Stunde Null« zeigt uns hier klare Wege auf.
An dem Programm sind Institutionen aus Kultur, Kunst und Wissenschaft beteiligt wie die städtischen Institutionen, darunter das Lenbachhaus, das NS-Dokumentationszentrum, die Volkshochschule und die Münchner Philharmoniker. Außerdem mit dabei sind kulturelle Einrichtungen der Vertriebenen sowie religiöser und migrantischer Gemeinschaften, etwa der Adalbert-Stifter-Verein, das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde, die Münchner Dommusik und der Verein »Migration macht Gesellschaft«, aber auch internationale Institute wie das Amerikahaus und das Tschechische Zentrum bis hin zu lokalen Geschichtsinitiativen und unabhängigen Kulturschaffenden. Insgesamt laden mehr als 200 Veranstaltungen von Januar bis Mai 2025 zu öffentlichem Nachdenken und Austausch ein, zu Lesungen, Vorträgen, Ausstellungen, Kunstaktionen und Kunstgesprächen, Rundgängen und Radtouren, Film und Musik – rund zwei Drittel bei freiem Eintritt.
Weitere Informationen: public-history-muenchen.de