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Henryk Mikołaj Górecki

Vom Avantgardisten zum Mystiker – so lässt sich Henryk Góreckis (geboren 1933 in Czernica, Polen) künstlerische Entwicklung von seinen kompositorischen Anfängen bis zur Dritten Symphonie in wenigen Worten zusammenfassen. Seine ersten Werke, mit denen er Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre an die Öffentlichkeit trat, orientierten sich in ihrer eruptiven Art am Serialismus eines Karlheinz Stockhausens oder Pierre Boulez‘. In dieser Hinsicht folgte er den musikalischen Vorgaben seiner Zeit. Doch er schöpfte auch aus anderen Quellen: »Ich bin in Schlesien geboren...«, sagte Górecki einmal in einem Interview. »Es ist ein altes polnisches Land. Aber es waren immer drei Kulturen präsent: Polen, Tschechen und Deutsche. Die Volkskunst, die ganze Kunst, hatte keine Grenzen. Die polnische Kultur ist eine wunderbare Mischung. Wenn man sich die Geschichte Polens anschaut, ist es gerade der Multikulturalismus, die Anwesenheit der so genannten Minderheiten, die Polen zu dem gemacht haben, was es war. Der kulturelle Reichtum, die Vielfalt vermischte sich und schuf ein neues Gebilde.« Die Auseinandersetzung mit der Musiktradition Polens und sein katholischer Glauben prägten im Laufe der Jahre immer stärker seine Klangsprache.

Henryk Góreckis Leben war von privaten Schicksalsschlägen und verheerenden politischen Entwicklungen überschattet. Schon als Zweijähriger verlor er seine Mutter, von der er die Begeisterung und Begabung für Musik geerbt hatte. Mit vier Jahren erlitt er eine Hüftverletzung, die durch eine Fehlbehandlung zu einem dauerhaften Leiden wurde – später kam noch ein Nierenleiden hinzu. Gesundheitliche Probleme begleiteten ihn sein Leben lang. Geboren 1933, wuchs er in einer Zeit voller Umbrüche auf: Er erlebte den Zweiten Weltkrieg, die Hinwendung Polens zum Kommunismus, die Unterdrückung durch das stalinistische Russland, Aufstände, Unruhen, Streikwellen und die Wirtschaftskrise, aus der die Gewerkschaft Solidarność hervorging, sowie die Jahre des Kriegsrechts, das General Jaruzelski verhängt hatte. In jener Zeit – so Górecki – sei er von der Regierung totgeschwiegen worden, sein Pass wurde konfisziert und er durfte seine Werke nicht aufführen. »Ich war verbannt. Górecki existierte nicht.«

Dabei hatte sich Górecki im Laufe der Jahre zu einer wichtigen Stimme Polens entwickelt – obwohl er immer wieder in Konflikt mit den kommunistischen Machthabern geriet. Seine berufliche Laufbahn begann er als Grundschullehrer, studierte später Musik auf Lehramt, ehe er 1955 zu dem Komponisten Bolesław Szabelski an die Musikakademie in Kattowitz kam. Die Begegnung mit dem ehemaligen Schüler von Karol Szymanowski erwies sich für Górecki als Glücksfall – bestärkte ihn Szabelski doch, seinen eigenen, unabhängigen Weg zu gehen. Nach dem Abschluss, den er mit Auszeichnung erwarb, stellten sich 1960 beim Musikfestival Warschauer Herbst die ersten Erfolge als Komponist ein. Diese ermöglichten ihm zwei Studienaufenthalte in Paris, wo er Olivier Messiaen, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen kennenlernte. 1975 erhielt er eine Professur an der Staatlichen Hochschule für Musik in Kattowitz. Górecki war kein bequemer Lehrer, von seinen Studentinnen und Studenten verlangte er dieselbe bedingungslose Hingabe an die Musik, wie er sie vorlebte: Er sagte ihnen: »Wenn du zwei oder drei Tage ohne Musik leben kannst, dann schreibe nicht… Es ist vielleicht besser, die Zeit mit einem Mädchen oder mit einem Bier zu verbringen… Wenn du nicht ohne Musik leben kannst, dann schreibe.« In seiner Funktion als Rektor wehrte er sich immer wieder gegen die Einmischung der Kommunistischen Partei. Als diese Papst Johannes Paul II. den Besuch in Kattowitz verweigerte, trat Górecki 1978 von seinem Amt zurück. Er starb 2010 in Kattowitz.

 

Autorin: Nicole Restle